Leseproben

Aufbruch

»Ich hau’ ab!«
»Wie, du haust ab?«
»Na, ich verschwinde. Ich hab’ diese Veranstaltung, die da Schule heißt, einfach satt.«
»Du warst immer schon verrückt!« Höfer schaltete sich ein. »Dieses Jahr haben wir Abitur. Wenn du jetzt alles hinschmeißt, ist dein ganzes Leben verpfuscht.«
»Ja, so verpfuscht wie das deines Vaters und das meines Vaters. Unsere Alten vegetieren ohnedies nur so vor sich hin. Ohne Ziel und Plan.«
»Aber sie haben beide etwas erreicht! Nicht zuletzt durch Fleiß und Lernen.«
»Wenn du glaubst, dass ich weiterhin diesen Quatsch mitmache, hast du dich getäuscht«, ereiferte sich Ben. »Wir lernen im Gymnasium, wie auch später an der Uni, Worte auswendig und speien sie auf Knopfdruck wieder aus. Dafür bekommen wir dann Noten und Zeugnisse, werden promoviert oder sonst was. Wir kriegen einen guten Job, heiraten ein hübsches Frauchen, leben in einem supertollen Haus mit wohlerzogenen Kindern.«
»Ja, eben!« Verständnislos sah Höfer den Schulfreund an. »Das will ich auch.«
»Schön und gut. Ich nicht.« Ben blickte zu Bertram hinüber. »Ich will etwas Eigenes schaffen, etwas Neues denken, ausprobieren, umsetzen.«
»Na, ja. Unsere Gesellschaft ist teilweise schon im Eimer«, sagte Bertram etwas zögerlich. »Die Reichen werden reicher. Manche verdienen sogar Geld mit Ankauf und Verkauf von Geld! Ist zwar pervers, aber so ist das nun mal.«
»Und so soll alles immer bleiben?«
Ben knallte die Faust aufs Zugfenster. »Mit mir nicht! Schau dir mal unsere doofe, hübsche Buchhaltungstussi an, die uns unterrichtet. Allgemeine Meinungen, allgemeine Werte, Beine breit machen für den richtigen, reichen Mann und emanzipatorisch Weisheiten von sich geben, ... ekelhaft.«
»Du bist ja nur verknallt in sie«, stichelte Höfer.
»Halt die Klappe, Bürger! Lass mich in Ruh’ mit deinem Gesülze«, zischte Ben und wandte sich ab. Er nahm ein Buch zur Hand und sah in den Lesepausen demonstrativ abweisend zum Fenster hinaus.
Der Zug hielt an. Höfer, Bertram und ein dritter Schüler standen auf.
»Was wirst du tun?«
Bertram hielt noch einmal inne und wandte sich seinem Freund zu.
»Ich melde mich bei dir, wenn es an der Zeit ist.«
»Mach’s gut, Ben.«
»Du auch.«


Heimat


Er sah den Greis zum ersten Mal, fühlte sich über alle Maßen zu ihm hingezogen. Wie war so etwas möglich? Ben wollte die Gegenwart jenes Menschen nie wieder missen. Das spürte er zutiefst. Er konnte die unumstößliche Gewissheit nicht begründen. Es fühlte sich nach Ankommen an, nach Zuhause.
Geraume Zeit herrschte absolute Stille. Georg Amthor räusperte sich.
»Ich möchte mit Benedikt noch alleine sprechen«, bat er die anderen, den Raum zu verlassen. Ben erschrak, als er seinen Namen hörte. Er hatte sich unüblicherweise mit dem vollen Taufnamen vorgestellt und war diesen nicht gewöhnt.
Nachdem er mit dem betagten Mystiker alleine war, fasste er sich und rückte seinen Stuhl in die unmittelbare Nähe Amthors. Dieser beugte sich vor.
»Seit einigen Minuten ist eine ungemein starke Strahlung wirksam. Christus verbindet unser beider Innerstes, unser beider Herzen. Vielleicht spürst du es. Ich empfinde eine tiefe Liebe für dich. Auch ahne ich, dass schwere Krisenzeiten hinter dir liegen. Diese mussten wohl unabdingbar sein.« Amthors Stimme zitterte und wurde brüchiger.
Er sprach nun langsamer und stockender. »Du bist ... geführt ... und geliebt ... Bedingungslos.«
Bens verdrängte Schmerzen der vergangenen Jahre brachen auf einmal ein in seine Brust, in seinen Kopf. Sie krochen in jede Zelle seines Körpers. Er wusste nicht mehr darum, soviel gelitten zu haben. Alle Leiden waren präsent. Zugleich fühlte er eine unermessliche Befreiung.
Er sah den Menschen an, der in ihm Gefühlswellen noch nie erlebten Ausmaßes hervorrief. Die Gesichtszüge Amthors nahm er nur mehr schemenhaft wahr. Tränen füllten seine Augen. Er weinte.


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